Author: Christian Wildhagen, Neue Züricher Zeitung, June 2024

“Da klatscht selbst das Tonhalle-Orchester

Der Geigerin Janine Jansen und Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi gelingt eine Sternstunde – so intensiv, dass man nach dem Ende erst einmal Mühe hat, sich auf den harten Tonhalle-Sitzen wiederzufinden.

Schwerelos schwebt der Ton durch den Raum. Was ist das: eine Sternschnuppe? Ein Licht in der Nacht? Ein Geigenton ist es jedenfalls nicht. So entmaterialisiert erhebt sich der Klang der Violine über dem dunklen Abgrund, der bedrohlich nach ihr zu rufen scheint. Janine Jansen streicht, nein, streichelt ihr herrliches Instrument nicht einfach mit dem Bogen, sie lässt es leuchten, singen, flehen. Und mehr als einmal fragt man sich an diesem denkwürdigen Abend in der Tonhalle Zürich, woher sie solche Töne nimmt.

Die niederländische Geigerin gehört bereits seit etlichen Jahren zur Elite ihrer Zunft – bei diesem Gastauftritt mit dem Tonhalle-Orchester unter der Leitung von Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi demonstriert sie, dass ihr derzeit niemand, wirklich niemand, das Wasser reichen kann.

Sie tut das im horrend schwierigen Violinkonzert von Jean Sibelius – aber fast beiläufig, ohne jedes Star-Gehabe. Solche Äusserlichkeiten, die bei anderen einen gewissen Schauwert bieten, liegen ihr einfach nicht. Stattdessen herrscht bei Jansen vom ersten Moment an höchste Konzentration, schon mit dem Orchestereinsatz versinkt sie regelrecht in der Musik. Nur darum geht es hier, das macht sie mit freundlich-einladender Unerbittlichkeit sofort klar. Und die Intensität lässt die Zeit stillstehen, ja sie entrückt die musikalische Wiedergabe derart in einen unirdischen, ausseralltäglichen Raum, dass man nach dem Ende Mühe hat, sich auf den harten Tonhalle-Sitzen wiederzufinden.

Eine Sternstunde, keine Frage. Auch deshalb, weil Jansen das vom versierten Geiger Sibelius mit allen Finessen und allerlei Bösartigkeiten gespickte Konzert gerade nicht – siehe oben – als Virtuosenfutter missversteht. Bei ihr ist das Werk vielmehr ein Seitenstück zu den grossen Sinfonien des Finnen, ein ausladend rhapsodisches Drama zwischen einer subjektiven, menschlichen Stimme und einem unheimlichen Kollektiv in Gestalt des Orchesters, das sie immer wieder einzuhegen, zu vereinnahmen und zur Not auch zum Schweigen zu bringen versucht. So beredt und bedrängend hört man dies selten.

Das ist auch das Verdienst von Järvi, der den dichten, bassbetonten Orchestersatz eben nicht begleitend zurücknimmt, sondern sinfonisch raumgreifend ausgestaltet. Es unterstreicht die ungeheure Dringlichkeit von Jansens Musizieren, dass sie sich trotzdem mühelos darüber erhebt: indem sie bald scheinbar ganz im Tutti-Gewoge aufgeht, bald dagegen ankämpft, um schliesslich umso leuchtender daraus hervorzutreten. Das ist Konzertieren in einer völlig uneitlen, quasi existenziellen Dimension, wie sie nur wenige erreichen. Am Ende legen auch die Tonhalle-Musiker – eine aussergewöhnliche Anerkennung – ihre Instrumente beiseite, insbesondere die Streicher, um in den frenetischen Applaus des Publikums einzustimmen.”